Überschuldung bei Start-ups: Neues Urteil zu Fortführungsprognose

aktualisiert am 20. Oktober 2023 8 Minuten zu lesen
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Wann gilt ein Start-up als überschuldet im insolvenzrechtlichen Sinne? Unter welchen Umständen gilt das Fortbestehen eines Unternehmens als wahrscheinlich? Ein neues Urteil schafft mehr Klarheit für Gründer und Gründerinnen.

 

Ausgangssituation bei Start-ups

Der Aufbau eines erfolgreichen Unternehmens kostet viel Geld und das oftmals ohne dass das Start-up bereits selbst nennenswerte Umsätze erzielt. In der Regel erwirtschaften Start-ups also insbesondere in ihren frühen Entwicklungsphasen keinen Gewinn, sondern sind für ihr Fortbestehen und ihre Entwicklung auf andere Formen der Finanzierung angewiesen. Daher ist es wenig überraschend, dass Start-ups leider besonders häufig mit Fragen des Insolvenzrechts konfrontiert sind.

Die angesprochenen anderen Formen der Finanzierung sind dabei oft Darlehen von z. B. Gesellschaftern des Unternehmens oder externen Investoren, die dazu dienen, den Kapitalbedarf des Unternehmens in der Gründungs- und Entwicklungsphase zu decken und die Liquidität sicherzustellen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit diese fehlende Fähigkeit zur Selbstfinanzierung und die damit verbundene Abhängigkeit von Kapitalgebern eine Überschuldung des Start-ups begründen können.

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Überschuldungsprüfung und Fortführungsprognose

Eine Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinne liegt vor, wenn das Gesellschaftsvermögen die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist in den nächsten zwölf Monaten nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich (§ 19 Abs. 2 Insolvenzordnung (InsO)).

Bei der Überschuldungsprüfung eines Unternehmens wird somit ein zweistufiges Verfahren durchgeführt:

  1. Fortführungsprognose: Ist das Unternehmen auch zukünftig zahlungsfähig und sein Fortbestehen daher überwiegend wahrscheinlich?
  2. Rechnerische Überschuldungsprüfung: Bilanzielle Vergleichsrechnung zwischen dem Vermögen (Aktiva) und den bestehenden Verbindlichkeiten (Passiva) des Unternehmens zum Stichtag

Mit der Fortführungs- oder auch Fortbestehensprognose soll also der Frage nachgegangen werden, ob das zu beurteilende Unternehmen auch zukünftig – das heißt mittelfristig in den nächsten zwölf Monaten – zahlungsfähig sein wird. Die Fortführungsprognose ist daher nach herrschender Meinung der Rechtsprechung und juristischen Literatur in erster Linie eine Zahlungsfähigkeitsprognose. Demnach kommt es bei der Prognose nicht darauf an, ob ein Unternehmen in Zukunft Erträge erwirtschaften oder sogar Gewinn erzielen kann.

 

Beschluss des OLG Düsseldorf vom 20.07.2021

Mit genau dieser Fortführungsprognose hat sich das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf in seinem Beschluss vom 20.07.2021 (Az. 12 W 7/21) befasst. Dabei waren die Besonderheiten von Start-ups im Fokus.

Kernaussagen des Beschlusses

  • Start-ups müssen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dazu in der Lage sein, ihre im Prognosezeitraum fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen.
  • Die dafür erforderlichen Mittel können jedoch auch von einem Dritten (Fremdkapitalgeber oder Eigentümer) zur Verfügung gestellt werden. Die fehlende Fähigkeit von Start-ups zur Selbstfinanzierung ist hingegen nicht entscheidend für die Fortführungsprognose.
  • Start-ups können sich im Rahmen einer Überschuldungsprüfung unter Umständen auch auf bloße Finanzierungszusagen eines Investors berufen.

 

Sachverhalt des Verfahrens

Im vorliegenden Fall wurde Ende des Jahres 2016 das Insolvenzverfahren über das Vermögen einer im Jahr 2014 gegründeten GmbH eröffnet. Bei dieser GmbH handelte es sich um ein Start-up, das bis dato nicht in der Lage gewesen war, Gewinne zu erzielen. Stattdessen erfolgte die Finanzierung durch regelmäßige Darlehen eines Investors.

Die Darlehensforderungen des Investors beliefen sich Ende 2015 bereits auf insgesamt 608.000 Euro und die Gesellschaft wies einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag in Höhe von 620.200 Euro aus. Eine rechnerische Überschuldung lag somit bereits unstrittig vor. Der Investor war jedoch weiterhin dazu bereit, den Finanzierungsbedarf des Start-ups zu decken – unter der Voraussetzung realistischer Finanzplanungen.

Der Insolvenzverwalter machte geltend, dass die GmbH spätestens zum Ende des Jahres 2015 überschuldet gewesen sei. Eine positive Fortführungsprognose sei weder dokumentiert noch habe sie tatsächlich bestanden. Zudem habe der Investor immer erst im Nachhinein Darlehen gewährt, um bereits entstandene Verluste auszugleichen. Die bloße Hoffnung auf weitere Darlehen des Investors genüge nicht, da es an einer konkreten Finanzierungszusage für die Zukunft gefehlt habe.

Der ehemalige Geschäftsführer des Start-ups entgegnete, die Gesellschaft sei nicht im insolvenzrechtlichen Sinne überschuldet gewesen. Durch die Zusage des Investors sei die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft sichergestellt gewesen, sodass eine positive Fortführungsprognose bestanden habe.

Entscheidung

Das OLG Düsseldorf folgte in seinem Beschluss der Ansicht des ehemaligen Geschäftsführers. Es liege in der Natur eines Start-ups, dass es zunächst nur Schulden mache und von Darlehen abhängig sei. Trotz dieser fehlenden Ertragskraft während der Anfangsphase seien operative Geschäftschancen nicht dauerhaft ausgeschlossen. Daher sieht das OLG, in Übereinstimmung mit der Auffassung des Bundesgerichtshofs (BGH), die Selbstfinanzierungskraft von Start-ups nicht als zwingend notwendig für eine positive Fortführungsprognose an.

Die erforderlichen Mittel, um die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft im Prognosezeitraum mit überwiegender Wahrscheinlichkeit sicherzustellen, können dabei auch von Dritten (Fremdkapitalgeber oder Eigentümer) zur Verfügung gestellt werden.

Begründung

Das Fortbestehen des Unternehmens müsse lediglich überwiegend, also zu mehr als 50 % wahrscheinlich sein. Demzufolge sei ein rechtlich gesicherter und einklagbarer Anspruch auf die Finanzierungsmaßnahmen für eine positive Fortführungsprognose gerade nicht erforderlich, da dies einem Wahrscheinlichkeitsgrad von 100 % entsprechen würde.

Im vorliegenden Fall habe eine Finanzierungszusage durch den Investor nachweislich vorgelegen. Dass dieser für die Gewährung der weiteren Finanzierung eine realistische Planung sowie Nachweise des Liquiditätsbedarfs vom Unternehmen verlangt habe, stehe nach Ansicht des OLG Düsseldorf einer positiven Fortführungsprognose nicht im Wege. Durch die Finanzierungszusage habe es eine hinreichende Wahrscheinlichkeit gegeben, dass das Unternehmen in der Lage sein würde, seinen fälligen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen.

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Fazit und Praxishinweise

Das große Insolvenzrisiko und die damit verbundenen Haftungsrisiken für Geschäftsführer (Insolvenzverschleppung) von Start-ups sind allgemein bekannt. Aus diesem Grund sollten Start-ups ihre wirtschaftliche Situation fortlaufend und gewissenhaft prüfen. Insbesondere die zukünftige Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft muss zu einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit sichergestellt sein.

Die Entscheidung des OLG Düsseldorf bringt zusätzliche Rechtssicherheit für Start-ups und deren Geschäftsführer. Bei der Beurteilung ihrer Zahlungsfähigkeit im Rahmen einer Überschuldungsprüfung können sich Start-ups in Zukunft auf Finanzierungszusagen von Gesellschaftern oder Dritten berufen. Zur Rechtssicherheit beitragen können auch spezielle Vereinbarungen (u. a. in Darlehensverträgen) mit Investoren, wie z. B. sogenannte qualifizierte Rangrücktrittsvereinbarungen.

Darüber hinaus sollten Start-ups immer auch eine nachvollziehbare (Finanz-)Planung vorweisen können, also ein Konzept (Businessplan) für eine positive Zukunftsperspektive. So gelingt es, im Zweifelsfall die Aussicht auf Erfolg und Ertragsfähigkeit des Unternehmens glaubhaft zu machen.


Autor: Lukas Lückel, Wirtschaftsjurist, 8P Partnerschaft mbB
Review: Gunnar Steffens, Steuerberater, 8P Partnerschaft mbB

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